Adam und Eva lesen den STANDARD ...
Der international renommierte österreichische Maler Christian Ludwig Attersee macht jedes Titelblatt der Jubiläumsausgabe zu einem Unikat
Wien - Ja, kann schon sein, dass man ihm seine künstlerischen Grenzüberschreitungen mitunter vorhält. Es ist nämlich so, sagt Christian Ludwig Attersee: "Ich muss doppelt so viel arbeiten, weil ich doppelt so viel geschimpft werde, eben weil ich derart viel mache." Mehr als 8500 Bilder hat er gemalt, mit wilden Pinselstrichen und wohlüberlegten Hieben die Leinwand, meist auch den Rahmen zugedeckt und diese erotisch-opulenten Farbräusche (fast) in aller Welt in Galerien und Museen, auf der Biennale von Venedig und auf der "documenta VI" in Kassel ausgestellt.
Damit ihm aber in den Malpausen nicht womöglich langweilig wird, musiziert er: "Ich spiele gern falsch, singe gern falsch, halte am liebsten keinen Rhythmus ein. Dabei entsteht etwas Neues, eben die Atterseemusik." Weiters in seinem Gesamtkunst-Repertoire: Er schreibt, entwirft Bühnenbilder, inszeniert Opern wie zuletzt höchst erfolgreich die "Salome" in Bremen. Die Atterseekirche in Bayern ist, wie er sagt, die meistbesuchte Kirche Süddeutschlands. Er gestaltet Mosaike, Flaschenetiketten, Geschirr, Wursthäute, Briefmarken, Teppiche, nein, Berührungsängste mit angewandter Kunst hat er nicht, im Gegenteil.
Attersee-Sprache
Und nun, noch nie dagewesen, eine Weltneuheit: die Atterseeisierung des STANDARD. Buchstäblich jede einzelne Zeitung dieser Jubiläumsausgabe ist eine Druckgrafik, jedes Titelblatt ein Unikat. 25.000-mal hat Attersee zehn Motive zum Thema "Adam und Eva lesen den STANDARD" mit teils minimalen Farbveränderungen variiert, ist für dieses großzügige Geburtstagsgeschenk die ganze Nacht in der Druckerei gestanden. "Ich bin eine Bildmaschine. Ich bin Kino, ich bin Musik, ich bin Malerei, ich bin Theater. Ich bin ein Schauspieler der Malerei" sagt er und resümiert folgerichtig und frei von falscher Bescheidenheit: "Ich bin einfach ein sehr guter Künstler."
Das war er übrigens auch schon mit sechs: Damals gewann der kleine Christian Ludwig einen Zeichenwettbewerb der amerikanischen Besatzer. Geboren 1940 in Pressburg/Bratislava, war er 1944 mit seiner Familie nach Oberösterreich übersiedelt. In seiner Jugend lagen seine Talente allerdings noch mehr im Sport; er gewann internationale Segelregatten, wurde viermal österreichischer Staatsmeister und wählte sich seinen Künstlernamen schließlich nach dem See, auf dem er am liebsten die Segel hisste: Attersee.
Bewegung, Wetter und Wasser wurden ihm, neben der Erotik, zu lebensbegleitenden Themen. Wetterscheibe heißt eins seiner Bilder. Oder Weinrotwetter. Oder Treibholzphantasie. Oder Wasserzwicker. Oder Mädchenobst. Diese Wortneuschöpfungen, die Attersee-Sprache, ist aus seinen Bildern nicht wegzudenken; an die 3000 Wörter hat er erfunden, "denn es gibt nur zwei Lockrufarten: die Sprache. Und das Bild." In Sachen Lockrufe war Attersee von jeher ziemlich einfallsreich: Als er 1967 anlässlich seiner ersten großen Vernissage in Wien ankündigte, einen Dackel zur doppelten Größe aufzublasen, stürmten Polizei und Tierschützer die Galerie. Attersee, der in Wirklichkeit nichts dergleichen vorgehabt hatte, bekam, was er wollte: Publizität.
Die riss seither nie mehr ab, auch wenn er heute glaubhaft versichert: "Mich interessiert weder das Geldverdienen noch der Welterfolg. Meine Kunst kommt nicht aus der Kunst, sondern aus dem Leben." Und aus dem Kopf. Wenn er am Semmering aus dem Fenster seines Landhauses blickt, dann sieht er keine Bäume: "Ich sehe immer nur das Meer. Das ist eben eine andere Art, mit der Realität umzugehen."
Realität ist, dass er voriges Jahr aus Altersgründen, aber gegen seinen Willen, als Professor an der Wiener Universität für angewandte Kunst in Pension hätte gehen sollen. Mangels geeigneter Nachfolge unterrichtet er immer noch - und schärft seinen Studierenden ein: "Wenn man kein besonderer Mensch ist, kann man keine besondere Kunst machen. Talent allein ist lächerlich. Man muss eine eigene Meinung und eine politische Haltung haben." 1988, im Gründungsjahr des STANDARD, erinnerte Attersee mit seinem Hakenkreuz-Plakat Blüht die Taube wieder? drastisch an Kurt Waldheims selektive Vergesslichkeit. Und in München war er zehnJahre vorher von Fans auf den Schultern durch seine Anti-Rassismus-Ausstellung Der Slawe ist die herrlichste Farbe getragen worden.
Meister der Erotik
Attersee, der Schwindelprinz. Attersee, schön wie seine Bilder (1967/68) sprengte in den späten 1960er-Jahren voll Lust und Ironie Tafelbild und Kunstbegriff. Er posierte mit Spiegeleihöschen und der Zierprothese A aus Attersees Prothesenalphabet, er erfand das aus Suppenschwammlöffel, Zeichengabel und Speisepflug bestehende Attersteck und den Würfelbüstenhalter, zu dem er präzise vermerkte: "Brustgröße wird proportional der Körpergröße angeglichen, zum Beispiel Körpergröße 165 Zentimeter trägt 9x9x9 Zentimeter."
Später malte "der Meister der Erotik" (A über A) Schampferde, Nachtfleisch und Mopsbrüste. Und ganz aktuell steht in seinem Wiener Atelier, einer ehemaligen Synagoge, ein Hirsch mit (oder auf?) seinem Glied auf einer Kirchturmspitze.
Das Bild gehört zu seinem jüngsten Zyklus Wir wissen noch nicht alles; Zeus-Zungen, Jesuskästen und mehr, ein komplizierter Titel für eine sinnlich-malerische Religionsanalyse nach Attersee-Art.
"Wir sind vom Christentum geprägt; dem gegenüber steht die römisch-griechische Götterwelt. Im antiken Griechenland hat man sich immer Götter erfunden, die schlechter waren als die Menschen selbst. Mich interessiert die Zwiespältigkeit; das, was nach mehr als 2000 Jahren davon übrigblieb."
Er selbst jedenfalls glaubt nicht an Gott: "Für mich ist die Malerei die höchste Form der Verständigung. Da habe ich auch selbst eine Gottgleichheit, komme dem Jetzt ganz nahe und kann die Welt täglich neu erfinden. Kunst macht mein Leben sinnvoll in dieser Sinnlosigkeit. Das ist die Qualität, an die ich glaube: ein Bild zu malen und zu beenden."
Vor dem Sterben hat er keine Angst, warum auch, das ganze Leben sei ja nichts anderes als eine innere Sehnsucht nach dem Tod: "Manchmal" , sagt Christian Ludwig Attersee, "manchmal lege ich mich hin und sage: Jetzt möchte ich gern sterben, weil ich gerade danach aufgelegt bin - gut aufgelegt, um zu sterben. Aber dann denke ich mir: Das Leben ist eh so kurz. Das hältst du schon durch." (Andrea Schurian/DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.10.2008)
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