"Chronisten" sind Menschen, die aus den medialen Überresten unseres Alltags wichtige Dokumentationen zur Zeitgeschichte verfertigenNein, Ötzis Katze hat es nicht gegeben. Zumindest wurde sie nicht gefunden. Und das prähistorisch anmutende Tierskelett, das man 1996 beim Pitztaler Gletscher am Taschach-Eisbruch ausgegraben hat, war früher einmal ein Hund – allerdings kein prähistorischer.
Aber herausgefunden hat man das erst einige Zeit und etliche Zeitungsberichte später. Bei Ötzis Katze handelte es sich übrigens um einen Faschingsscherz der "Tiroler Tageszeitung", der rasch aufgeklärt wurde. Das tatsächlich gefundene Pitztaler Tierskelett, das eine Zeit lang für Aufregung sorgte – geschäftstüchtige Touristiker wollten es schon Pitzi nennen – wurde von Wissenschaftern als hundsgewöhnlicher Kadaver identifiziert.
Die Euphorie über die Entdeckung des Eismannes im Jahr 1991 am Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen war nicht nur unter Wissenschaftern groß. Dementsprechend eifrig stürzten sich Hobbyarchäologen auf jeden ausapernden Knochen, und überschlugen sich die Medien in mehr oder weniger seriöser Berichterstattung. Das Thema war schon allein wegen der Eigentumsstreitigkeiten ein Dauerbrenner: "Wem gehört Ötzi?" wurde landauf, landab gefragt.
Später, nachdem die Umstände des Gletscherdramas weitgehend geklärt und die Zugehörigkeit der Mumie entschieden waren, wurde das Thema hauptsächlich von touristischer Seite am Köcheln gehalten, unter anderem durch die Errichtung des Ötzidorfes im Jahr 2000 in Längenfeld. Auch clevere Marketingstrategen wie DJ-Ötzi sicherten sich Schlagzeilen, ebenso Weinproduzenten, die plötzlich Ötzi-Wein im Angebot hatten, oder Hellseher, die behaupteten, einen guten Draht zum Jenseits zu haben und mit Ötzi in Kontakt zu stehen. Selbstverständlich hat man auch Kuriosa in die Dokumentation aufgenommen, wie zum Beispiel Berichte über jene Amerikanerin, die sich vergeblich um eine Ötzi-Spermaspende bemühte. Oder die Artikel über Ötzis verlorenen Penis, der aber dann doch wieder aufgetaucht ist.
Ötzi und "Frozen Fritz"
Von 1991 bis 2001 erschienen allein in Tirol 622 Ötzi-Artikel in diversen Zeitungen und Lokalblättern. Helmut Hörmann, Leiter der "Arbeitsgemeinschaft Tiroler Chronisten", hat sie alle gesammelt. Ein mehrere hundert Seiten umfassender Pressespiegel ist so entstanden, der von der ersten Kurzmeldung über den Fund einer Gletscherleiche bis zu den skurrilen Auswüchsen rund um die Ötzi-Geschichte die Berichterstattung in sämtlichen Tiroler Medien dokumentiert. Schachteln voll mit internationalen Zeitungsberichten stehen noch zur Aufarbeitung bereit. Anhand der Dokumentation kann man unter anderem nachvollziehen, wie sich die Terminologie insbesondere bei der Namensgebung verändert hat: Zuerst war noch von der Gletschermumie oder vom "Mann aus dem Eis" die Rede, während englischsprachige Medien bereits leger über den "Frozen Fritz" berichteten. Der Name Ötzi tauchte zum ersten Mal in einer Wiener Tageszeitung auf. Er hat sich letztlich durchgesetzt, obwohl ihn viele Wissenschafter ablehnten, weil sie ihn für zu respektlos hielten. Im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, Ötzis letzter Ruhestätte, wird er denn auch seriös als "Der Mann aus dem Eis" oder die "Mumie vom Similaun" geführt.
Das Ötzi-Thema hat Helmut Hörmann vom ersten Augenblick an fasziniert, weil Ötzi, bis er den Italienern zugesprochen wurde, seinem Bezirk Imst angehörte, und weil er gleich ahnte, dass der Eismann jahrelang ein medial ergiebiges Thema sein würde. Sein Jagdinstinkt war geweckt. Denn gute Chronisten sind nicht nur leidenschaftliche Sammler, sondern auch Jäger. Ihr vorrangiges Jagdrevier sind die Printmedien, und es ist höchst erstaunlich, in welch unterschiedlichen Gebieten sie dabei fündig werden.
Ein Ortschronist sammelt und durchforscht prinzipiell jedes Druckwerk, das bei ihm im Ort erscheint oder den Ort zum Thema hat. Von Tages- und Wochenzeitschriften, Dorfzeitungen, Flugblättern, Plakaten, Fremdenverkehrsprospekten, Pfarrbriefen und diversen Aussendungen verschiedener Vereine bis hin zu Postkarten, Liftkarten, Briefmarken und Sterbebildchen wird zuerst einmal alles nach Sachgebieten geordnet und in Schachteln verstaut.
In einem schlecht organisierten Archiv würde das Material dort auch bleiben, aber Chronisten treibt ja nicht nur die Sammelleidenschaft, sie haben auch eine Aufgabe zu erfüllen. Deshalb holt man nach einem Sicherheitsabstand von ungefähr zwei Jahren – nach dieser Zeitspanne lässt sich erkennen, welche Stücke aus dem Sammelsurium es wirklich wert sind, aufbewahrt zu werden – die Schriftstücke wieder hervor, schneidet die relevanten Artikel sorgfältig aus, versieht sie mit Quellenangabe, kopiert sie und gibt sie in einen Ordner.
Fundgruben für Forscher
Säumigkeit wird dabei nicht geduldet. "Das unterscheidet uns von Heimatkundlern" , sagt Helmut Hörmann. "Denn Heimatkundler betreiben ihre Forschungen aus reinem Hobby. Wenn sie keine Lust haben, können sie es jederzeit bleiben lassen. Wir Chronisten verpflichten uns dazu, unsere Arbeit gewissenhaft zu erfüllen, und gewissenhaft heißt, dass wir ständig am Sammeln, Forschen und Ordnen sind." Alle paar Jahre wird ein Gemeindespiegel angelegt, worin man die wichtigsten Artikel nachlesen kann. Umfassende Dokumentationen, wie schön gestaltete Dorfbücher mit viel Bildmaterial, kann man aus Kostengründen nur ungefähr alle dreißig Jahre herausgeben.
Tatsächlich sind Chronistenarchive wahre Fundgruben für Rechercheure und Historiker. Sie lassen oft gerade durch unspektakuläre Aufzeichnungen und Randnotizen die Entwicklung eines Ortes erkennen. In den gehorteten Alltagsgeschichten spiegelt sich Geschichte. Trotzdem befassen sich Chronisten nicht vorrangig mit der Vergangenheit, sondern mit der Gegenwart. Um ihre Aufgabe gut erfüllen zu können, müssen sie einen mehrwöchigen Lehrgang besuchen, wo sie das richtige Archivieren, das Führen einer Datenbank, das Lesen von Kurrentschrift und manches andere mehr erlernen. Außerdem müssen sie eine rege Anteilnahme für die Vorgänge in ihren Heimatgemeinden aufbringen. Auch das grundsätzliche Interesse an der Gesellschaft treibt sie an. Und sie sammeln, schnippeln, recherchieren, kopieren, fotografieren, ordnen und verfassen ihre Chroniken ehrenamtlich.
Wie es sich für eine derart ordnungsliebende Gruppe gehört, besitzt sie eine vorgegebene Struktur. In aufsteigender Reihenfolge sind das: Ortschronisten – Bezirkschronisten – Landeschronist. Zumindest in Tirol ist das so. Dort, wo das Chronistenwesen ausgeprägter und strukturierter ist als im übrigen Österreich und wo insgesamt 300 Chronistinnen und Chronisten tätig sind. Die meisten von ihnen gehören dem Lehrerberuf an, aber es gibt auch Fahrdienstleiter, Richter und Mikrobiologen, die sich in den Dienst der archivierten Zeit stellen. Manchmal bilden sich Teams, die ihre Aufgabe gemeinschaftlich erledigen. Natürlich prägen auch persönliche Vorlieben die Arbeit eines Chronisten. Wer gern fotografiert, dokumentiert am liebsten mit der Kamera; wer literarisch talentiert ist, schreibt Geschichten nieder; außerdem gibt es noch die besonders genauen Beobachter, die sich wie Detektive auf Spurensuche begeben.
Helmut Hörmann ist so einer. In seiner Heimatgemeinde Mötz im Tiroler Oberland steht zum Beispiel auf dem Hauptplatz vor dem Gemeindeamt eine Trauerweide. Warum ausgerechnet eine Trauerweide?, fragte sich der Chronist und begann zu recherchieren. Er fand heraus, dass sie knapp vor dem Jahr 1900 als Andenken an unterdrückte Unabhängigkeitsbestrebungen gepflanzt wurde. Das Dorf wollte sich damals von der Großgemeinde lösen und sich eigenständig machen, was im letzten Moment verhindert worden war. Im Ort hatte niemand mehr etwas von diesem Vorfall gewusst. Auch alte Flurnamen hat Helmut Hörmann recherchiert, die längt in Vergessenheit geraten waren. Und als er wissen wollte, wie viele Abonnenten in seiner Gemeinde die landesübliche Tageszeitung lesen, aber bei der zuständigen Stelle keine Auskunft darüber bekam, fand er es durch selbständige Nachforschungen heraus.
Solche Spurensuchen sind immer spannend, während das Horten, Ausschneiden und Einkleben von Zeitungsartikeln mitunter eintönig werden kann, vor allem, wenn es sich um Recherchen in Lokalnachrichten handelt und um sogenannte "graue Literatur", also Medienberichte, die bloß regionale Bedeutung haben. Obwohl man auch dabei immer wieder Überraschungen erlebt. Helmut Hörmann: "Es gibt Dorfblätter, die stellen mit ihrem kritischen Potential, ihren pointierten Beiträgen und ihren engagierten Autoren jede Tageszeitung in den Schatten. Diese haben dann kein Problem damit, heikle Themen aufzugreifen und zum Beispiel über die gelungene oder verhinderte Integration muslimischer Mitbürger in ihrer Heimatgemeinde zu berichten oder ihren Dorfkaisern öffentlich die Meinung zu sagen. Nach Jahren kann man die Diskussionen und Argumentationen überschaubar nachvollziehen und es lassen sich mittels einer lückenlos gestalteten Dokumentation die Entwicklungen mitsamt ihren Fortschritten und Rückschlägen erkennen."
Auch Helmut Hörmanns Medien-Dokumentation über Ötzi ist ein wichtiges zeithistorisches Dokument, das an der Universität Innsbruck im großen Rahmen präsentiert wurde. Es macht einen Chronisten stolz, wenn seine mühevolle Arbeit anerkannt wird und der Wissenschaft als Grundlage für weitere Forschungen dient. Das tröstet darüber hinweg, dass den Archiven kaum Budget zur Verfügung gestellt wird. Die meisten Gemeinden schießen bloß das Geld für Strom und Heizung zu und stellen Raum und Computer zur Verfügung.
Die Ehrenamtlichkeit der Arbeit garantiert auch ein wichtiges Stück Unabhängigkeit, schließlich will man beim Erstellen der Chroniken ideologische Filter vermeiden. Was nicht heißt, dass es Chronisten keinen Genuss bereitet, Berichte für die Nachwelt zu horten, die manche Leute lieber verschwinden lassen würden.
Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Autorin und Journalistin in Mils in Tirol.
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