Dirk Stermann über kulturelle Unterschiede Wintersemester 1987/88. Ein Freund fuhr mich mit seinem alten Taxi von Düsseldorf nach Wien. Ein Kompass pickte am Armaturenbrett. Die Nadel zeigte lang nach Süden, dann immer nur mehr nach Osten. Meine Mutter kommt aus der DDR, mein Vater sagte deshalb immer, sie sei Russin. Ich fühlte mich auf den Spuren meiner Mutter. 1987 war Wien das Ende der Welt. Ich hatte niemanden gekannt, der schon einmal in Wien war.
In Deutschland weiß man traditionellerweise sehr wenig über Österreich. Ich wusste, wie die Briefmarken aussahen, weil meine Großmutter gern ins Salzburger Land im Sommer fuhr. Sie lernte dort einmal das schwedische Skinationalteam kennen, sie unterschrieben alle auf einer Autogrammkarte, ich kannte niemanden, weil ich mich noch nie fürs Skifahren interessiert hatte. Meine Oma war enttäuscht, dabei kannte sie auch keinen der abgebildeten Skistars. Meine Oma sagte "ich fahr wieder nach Österreich", sie sagte aber auch "Ich geh jetzt nach 2000", so hieß ihr Supermarkt. Klingt jetzt sehr zielorientiert das "nach", war aber einfach nur ein Grammatikfehler. Wie hat Alfred Dorfer mal gesagt? Die Deutschen gehen zur Schule, die Österreicher auch rein.
Hotel Sacher und Kottan
Als Kind war ich einmal in Wien gewesen. Mein Bruder hatte in der Kaisergruft pfeifen gelernt und ich hatte mich beeindruckt gezeigt von den prachtvollen Marmortoiletten im Hotel Sacher. Das war Ende der 1970er Jahre. Damals fuhren Wiener noch nach München, um zu sehen, wie es im Westen ausschaut. Erzählte mir später mal ein ORF-Techniker.
Das Taxi hatte einen Motorschaden. Der Düsseldorfer Freund fuhr in eine Werkstatt im dritten Bezirk. Ein Hinterhof, der Mechaniker sah aus wie der Einbeinige bei Kottan und auch der Hinterhof sah aus wie bei Kottan. Das war Pflichtschauen bei meinem Vater und "der erste Kommissar war der beste Kottan" sein Mantra. "Hat sich umgebracht" der ständige Nachsatz, so lag über Wien für mich auch immer etwas Düsteres, auch wenn mein Vater den Tod eher Wienerisch sah. Der hat's geschafft, hieß es immer, wenn die Nachricht kam, dass wer gestorben sei und schon bei meiner Geburt hatte er zu den Krankenschwestern gesagt: der erste Schritt zum Tod. Aber was alles dazwischen liegt, versuchten es die rheinischen Schwestern positiv. Wenn's hoch kommt Not und Trübsal, schmetterte mein Vater jeden Versuch ab, Optimismus für eine Option zu halten.
Prag, Brno, Budapest stand auf den Verkehrsschildern, das hatte Mitte der 1980er Jahre noch etwas von verbotener Welt. Mit 15 war ich in der DDR gewesen, das war das fremdeste, was ich jemals gesehen hatte. Fremder als Kairo oder Saigon. Dieses Gefühl hätte ich gern wieder einmal gehabt. Ewig schade, dass die Mauer fiel. Jetzt ist alles gleich. Aber 1987 war der Wegweiser "Brno, Praha, Budapest" noch geheimnisvoll, eiserner Vorhang, wie das schon klang. Da lief's einem ja über den Rücken und jetzt wohnte ich kurz davor. Die Hutwölbung
Mein Uropa hatte einmal in der Salzburger Innenstadt einer alten Frau auf die Wölbung ihres Hutes gehauen. Diese Wölbung reizte ihn immer maßlos. Diese Wölbung musste er einfach hinunterdrücken. Der Salzburgerin gefiel das zu Recht nicht. Diese Geschichte kannte ich, das war die einzige, in der meine Ruhrpott-Familie einmal mit Österreichern in Kontakt getreten war. Wobei mir jetzt einfällt, dass ich mit vier Jahren einmal im Sommer am Wörthersee war. Ein Bauernhof mit Pool. Mein Bruder war frischgeboren und schrie ununterbrochen und ein Schwein wurde geschlachtet. Als Touristenattraktion wurde ich in den Stall geführt und sollte zusehen. Ich lief hinaus, aber in den nächsten Tagen musste ich immer an einer riesigen Tonne vorbei, die bis oben hin mit Blut gefüllt war. Die Schreie des Schweins hab ich noch immer Ohr, die Schreie meines Bruders nicht mehr. Aber auch das war Österreich. Gefährlich, Tonnen voller Blut. Damals war ich auch schon ein Piefke gewesen, wusste es aber nicht. Kinder wissen meistens noch nicht, dass sie Tschuschen, Piefke, Ösis oder Katzlmacher sind. Oachkatzlschwoaf
Wenn man dann drauf kommt, dass man Deutscher ist, ist das eine mittlere Katastrophe. Viel uncooler kann eine Nationalität nicht sein. Spießig und schuldig, na bravo, lieber Gott, was für eine Mischung. Darum hab ich mich früh international gegeben. Lernte Sprachen, reiste viel und wenn man mich fragte, woher ich komme, nuschelte ich oder sagte Europa. Ich glaube, dass die Deutschen die EU so gerne haben wollten, weil sie jetzt immer sagen können, sie seien Europäer. Deutschland nervte und Wien hatte als vorübergehende Wahlheimat etwas freakiges.
Ich kannte niemanden außer mir, der nach Wien ging und fühlte mich alleine schon deshalb wohl. Deutschland hinter mir gelassen, herrlich, Südosteuropa vor mir. Bereit für alles fremde, ohne jedes Vorurteil, weil ich mir noch nie Gedanken über dieses Land und seine Bewohner gemacht hatte. Ich hatte keine Meinung von Österreich und den Österreichern und freute mich. Aber womit ich nicht gerechnet hatte: jeder Österreicher hatte eine Meinung zu den Deutschen. Alle hatten sich Gedanken über Deutsche, Deutschland und typisch deutsches gemacht und ich war plötzlich, stärker als je zuvor, deitsch wie man nur deitsch sein kann. Nachdem ich versucht hatte, Deutschland hinter mir zu lassen, wurde ich Wien zum täglichen Deutschsein verurteilt.
Am ersten Abend, in einem Lokal im sechsten Bezirk, ich saß mit Hobbydramaturgen der Gruppe 80 in einem Gumpendorfer Lokal, begann man über Peymann zu schimpfen, was ja völlig okay ist, aber aufgrund seiner Herkunft. Ich, als naiver Internationalist, versuchte Wogen zu glätten, aber die Damen und Herren freie Theaterschaffende spuckten fast vor Erregung und brüllten: alle Deutschen sind präpotent.
Beim nächsten Urlaub, als meine Oma erzählte, sie sei nach 2000 gegangen, weil "et dort gerade so billige Kartöffelchen gibt, dat hat mir et Änne erzählt", sagte ich ihr, sie sei präpotent und meine dicke Tante Lotte, fast 200 Kilo schwer, mit einer riesigen Tüte Chips in der Hand, also einem Chips-Sackerl, nickte lachend und meinte, wenn präpotent heißt, dass man Zähne am Arsch hat, das hätte sie auch, das sei ein Zwilling, sagt der Arzt.
Ich verließ meine präpotenten Verwandten, die als Großsippe in einem Arbeiterhaus in Duisburg lebten und drei Großonkeln und mein Urgroßvater zusammen nur 20 Finger hatten, die anderen lagen in der Fabrik. Ich fuhr, wie meine Oma mal richtig sagte, wieder "nach Wien".
Wenig Beliebteres gibt es, als Deutsche Oachkatzlschwoaf sagen zu lassen. Manchmal täglich, manchmal im Minutentakt. "Sag mal Oachkatzlschwoaf!". Noch nie hab ich irgendjemanden im Alltag Oachkatzlschwoaf sagen hören, aber auch schon früher in Deutschland hab ich nie das Wort Eichhörnchenschweif gebraucht, nicht mal im Biologieunterricht. Demonstrieren im Kaffeehaus
Deutsche lieben es, wenn Wiener sprechen. Deutsche glauben, alle Wiener sprächen so wie Andre Heller. Für Wiener wiederum klingen Deutsche immer wie ein stotternder, knatternder Leopard II Panzermotor. Aber irgendwie gescheit. In der Uni, wenn ich während eines Seminars mal pinkeln musste und mich meldete, Entschuldigung, ich muss mal pinkeln, da hörte ich, wie ein Raunen durch den Raum ging: pfoah, ist der gscheit. Weil ich auf Hochdeutsch pinkeln kann! Aber vielleicht lag's auch an dem Fach Theaterwissenschaft, wo vielleicht so ein Satz schon ganz klug wirkt.
Aber mein Studium in Wien fand nicht wirklich statt, weil 1987 gestreikt wurde. Streiks kannte ich aus Deutschland von der Uni, neu war hier, dass während der Demos ständig Demonstranten in Kaffeehäusern verschwanden und dort am Tisch scheinbar weiterdemonstrierten. Da waren die deutschen Studenten pflichtbewusster bei den Demos. War das überhaupt eine Demo? Im Radio, auf Ö1, hörte ich 1987 ein Interview mit der deutschen Schauspielerin Julia von Sell, die mit Peymann zusammen aus Bochum ans Burgtheater gewechselt war. Auf die Frage, die eigentlich eher eine Feststellung war: Und werden Sie in Wien bleiben? Antwortete sie: Ich weiß noch nicht. Wissen Sie, in Bochum fragen dich die Leute, willst du ein Butterbrot, ja oder nein? Und du sagst ja oder nein. Aber in Wien weißt du nie, was die Frage bedeutet." Scheipi
Weil das Studium einfach nicht los ging und weil ich nicht wusste, dass man nur über Beziehungen zum ORF kommen kann, bewarb ich mich und fing sang und klanglos an als freier Mitarbeiter zu arbeiten. Mein Chef beim Fernsehen, wo ich Texte für Fernsehansagerinnen schrieb, begrüßte mich jeden Morgen mit : Morgen Scheipi, lange wusste ich nicht, was Scheipi heißen könnte, bis mir meine Lieblingsfernsehansagerin erklärte, das hieße Scheiß Piefke. Ihr schrieb ich übrigens die besten Ansagen, für alle anderen blieb nur, jetzt in FS1 und gleich in FS2. Der Abteilungsleiter empfahl mir einen Entpiefkenisierungskurs bei der großartigen Sprechlehrerin Eva Wächter. Ich entgegnete, dass ich ja nicht selber im Fernsehen die Ansagen spräche, ich schriebe sie ja nur, ja, klar, sagte der Abteilungsleiter, das ist wegen der Kontakte am Gang, damit die Leute nicht merken, dass Sie Deutscher sind. War das alles wegen meinem Urgroßvater? Weil er der alten Frau in Salzburg auf den gewölbten Hut geklopft hatte? Baba als Hallo
Meine Würstelfrau am Naschmarktstadl war die erste, die das Eis brach. Ein Jahr lang hab ich bei ihr fast täglich eine Wurst gegessen. Käsekrainer mit süßem Senf und Brot. Ein Jahr lang hat sie nichts gesagt. Weder bei der Bestellung noch bei der Verabschiedung. Nach einem Jahr sagte sie plötzlich und unvermittelt: "Ich habe Verwandte in Münster. Sind ganz liebe Leut." Ich hab mich fast verschluckt. Ich verabschiedete mich, drehte mich um und hörte dann: "Baba". Das war, nach einem Jahr, wie ein Hallo. Text: Dirk Stermann
orf1.at